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Ankunft in Rasankur
Vergänglichkeit. In der Ewigkeit waren sie alle nur vergängliche, kleine, unbedeutende Menschen. Jeder einzelne Mann, jede Frau, jedes Kind. Ihre unzulängliche Begrifflichkeit des temporalen Zustandes war es, welche sie alle hier gefangen hielt. In dieser Existenz. Mit einem einzigen, zaghaften Blinzeln ihrer Augenlider vermochte sie tiefer in das Weltengeschehen hineinzublicken als sie es noch vor Tagen oder Wochen jemals für möglich gehalten hätte. Wie eine nackte, beinahe gehäutete Fledermaus hing sie kopfüber in diesem seltsamen Glockenturm des Anwesens. Die morgendliche Sonne geißelte ihren aufgescheuerten Leib, das nachtschwarze Haar hing ihr wie ein Trauerschleier vor Augen, verklebt, schmutzig und stellenweise gar von Blut durchtränkt. Blut welches ihr vormals aus den Nasenlöchern geflossen war. Nun nicht mehr. Es herrschte eine bedrückende Stille, keinerlei Echo, selbst ihre intimsten Gedanken waren verstummt. Leere. Nur die langsam aufsteigende Sonne dort hinten am fernen Horizont. Nur das leise, kaum vernehmbare Summen eines morgendlichen Windhauchs, welcher über verstaubte Kanten hinwegglitt, welcher die schmalen, farbigen Wimpel dort an der Balustrade zum tänzeln brachte. Ausdruckslos starrten bestialische Wasserspeier dort in die Untiefen hinab, verwehrten jedoch dem kostbarsten Nass seinen gerechten Pfad. Stille und schwärzester Abgrund. Es war geradewegs so als würde sie über einer persönlichen Hölle schlummern, als würde ihr eine böswillige Macht dort unten im Schlund auflauern. Und sie kannte diese Macht, deren Namen. Ar-Raschid. Der Rechtschaffene. Aber wer er, sie oder es war, woher es stammte... diese Antworten blieb sie sich selbst schuldig. Ein weiterer Lidschlag. Vor ihr ausgestreckt, wie eine topographische Reliefkarte erstreckte sich diese erwachende Stadt vor ihren Augen. Bluttropfen in die Tiefe. Leises Platschen. Widerhall. Nichts.

Leben, überall sprießte Leben. Dies war eine Wüste, eine verdorrte, einsame Einöde und dennoch keimte zwischen den kristallinen Gewebeschichten überschwängliches Leben. Pulsierende, pumpende, schwemmende Macht, wie durch ein verborgenes Herz angetrieben. Die durch die chemischen Vorgänge der Existenz angereicherte Luft quoll förmlich vor Vitalität, wurde durch unsichtbare Lungen ins Innerste der Metropole gesogen um sich dort explosionsartig auszubreiten. Alles vibrierte in einem dynamischen Gleichklang, das dahinter schwelgende Echo – war wie ein sanfter Ruf. Etwas unschuldig kindliches. Etwas kürzlich aus tiefstem Schlafe erwachtes, etwas das sich mütterlich an den Busen schmiegte, das sich nach Zuwendung sehnte und diese einforderte. Doch dies wirkte umso befremdlicher. Nicht bittend, sondern eben fordernd. Trotzig, beinahe schon aggressiv. Was es auch war, es wagte sich nicht aus dem Schatten hervor, sondern vermied tunlichst jegliches illuminierende Licht, jeglichen Quell menschlicher Sicherheit. Es verbarg sich vor der goldenen Korona der Sonne, ganz tief dort unten, an den Wurzeln der Welt selbst. Von ihrer absonderlichen Warte aus vermochte sie an eben dieses Versteck zu spähen. Kein Mensch, aber auch kein Ding, nichts was nicht etwa unbeschreiblich gewesen wäre. Dennoch besaß es über wesentlich mehr Komplexität als jegliches gewöhnliche Ding jemals hätte besitzen dürfen. Es streifte an die Grenzen einer bewussten Realität, existierte aber gleichzeitig im nicht-existenten Raum der mythischen Einbildung, es glich einem friedvollen Einhorn und war dennoch dessen Widerspiegel. Es war kein weißes, zahmes Ross, sondern ein tosender schwarzer Drachen. Und aus seinen Nüstern entstieg die schwärzeste aller Unterwelten höchst selbst, Schwefel, Rauch und der Gestank verbrannten Fleisches. Nein, sie würde sich nun nicht dem anschwellenden Wahnsinn hingeben, sie würde sich nun nicht brechen lassen, durch was auch immer ihren Verstand derart zusetzte. Kreischender Hass wand sich in einer phantastischen Spirale empor und umschlängelte den gleichfalls serpentinen Leib der Chaosbestie, Blitze grellsten Purpurs entflammten an jenen Stellen wo sich Schuppen rieben, geballter Zorn hieb auf Schwingen beiderlei Ursprung ein, während im etherischen Zwischenraum beider Kreaturen eine flammende Welt empor züngelte und alles Leben in einem einzelnen, gewaltigen Mahlstrom dahin gerafft wurde.

Sie keuchte erschrocken auf, prustete halbflüssiges, halbklumpiges Blut empor, würgen. Sie erbrach sich regelrechte, bereits zum dritten Male in relativ kurzer Zeit. Doch dieses Mal war kaum noch Flüssigkeit mit ihm Spiel, es war mehr ein trockenes Röcheln, ein unerfülltes, gnadenloses Schütteln wie von Frost durchfuhr ihren gesamten Körper während sie sich noch damit abmühte sich wenigstens auf die Handballen zu erheben. Beinahe schon glitt sie auf der eigenen hochgewürgten Essenz aus, schaffte dann aber dennoch sich selbst auf wackelige Knie zu erheben. Um sie herum entfaltete sich eine Welt wie aus überfüllten Träumen, aus bisher ungekannten Verlangen. Es war eine Sphäre nackter Sehnsüchte, der gesamte Prunksaal war gefüllt mit goldenen Urnen, welche wiederum Edelsteine und ähnliche Kostbarkeiten enthielten, die Luft war geradezu geschwängert von dargebotenen Räucheropfern. Aus einem Winkel, genauer gesagt einer höher gelegenen Loge ertönten die zierlichen Töne einer sanft gestrichenen Harfe, von einer anderen her erklang Flötenmusik. Heller Trommelschlag konkurrierte mit einer vorzüglich gestimmten Geige. Alles vermittelte den Eindruck gehobener Eleganz, selbst der schwere Stor vor den Ölgemälden früherer Aristokraten – zumindest ließen sie sich in der spezifischen Pose abbilden – war sorgfältigst mit goldenen Schnallen befestigt worden. Aus engelsgleichen Marmorstatuen plätscherte fröhlich rubinroter Traubensaft in Bassins deren Grund gleichfalls mit allerlei Perlen und anderen Kleinodien ausstaffiert waren. Wie lustvolle Schlangen krochen unter seidenen Stoffen fahle Gestalten herum, von oben herab ertönte frivoles Gekichere. Sie schritt als nackte Wandererin durch diese hochherrschaftlichen Gefilde und empfand dabei nicht einmal den leisesten Hauch einer natürlichen Scham. Der Körper war ein Tempel. Dies alles war nur ein Tempel. Ein Illusion, ein künstlich erzeugtes Trugbild welches sich mit vehementer Verbissenheit immer tiefer in ihr geistiges Selbstbewusstsein drängte. Nein, dies war nicht real, dies alles existierte nur in ihrer Traumwelt. Sie war hier nicht materiell. Sie kämpfte wie besessen dagegen an. Und letztendlich erschütterte eine heftige, dröhnende Spalte den gesamten Raum. Alles zersprang gleich einem gestürzten Spiegel, zehntausend winzige Facetten zerbarsten zeitgleich beim Aufprall. Ein gellender Schrei durchdrang ihre Seele und ließ ihr das Mark in den Knochen erstarren. Der violette Sandelholzdiwan kroch ihr wieder ins Bewusstsein.

Sie krallte sich mit gespreizten Fingern in den samtenen Violettstich. Sie spuckte aus was sich an seltsamen Überresten in ihrem Munde zusammengefunden hatte. Eine raue Mischung aus Sand, Asche, Staub und Speichel. Der Raum war wie zuvor, allein die rechte Pforte stand nun sperrangelweit geöffnet. Ein abflauender Windhauch drang durch die linke Pforte, diese war allenfalls angelehnt. Auf den nackten Knien dahin rutschend erreichte sie die Schwelle, durchschritt sie gar. Dahinter eröffnete sich ein verwunderlich anzusehender Garten aus alabasterweißen Büsten und Statuetten, ein geschlängelter Pfad wand sich über einen erhöhten Hügel hinab in Richtung des nahen Ritualplatzes. Sie konnte die sechs Pfeiler schemenhaft in der Ferne erkennen. Eben als sie sich entlang des Pfostens empor hangelte um in die Freiheit hinaus zustürzen realisierte sie die fremde Umgebung. Sie war in dieser seltsamen wiederauferstandenen Stadt gefangen, nicht nur Gefangen, jemand hatte sie als Sklavin käuflich erworben. Doch als sie sich die meisten Stellen begutachtete, zumindest jene die in ihrer absonderlichen Nacktheit erkenntlich waren, trug sie keinerlei Brandmale oder andere Anzeichen irgendeines Besitzers. Doch sie würde auffallen, allein ob ihrer äußerlichen „Reinheit“, sie wies keinerlei Mutationen auf und besaß auch nicht die dunkle Hautfarbe der gewöhnlichen Beduinen oder welches Volk auch immer hier beheimatet war. Nein, nicht nur aus pietätvollen Gründen heraus, sondern auch um ihr Inkognito zu wahren musste sie sich schnellstmöglich eine Tarnung besorgen. Der nächste Stor schien ihr das geeignetste Opfer darzustellen, kurzerhand wurde er heruntergerissen und wie ein Sari um die Taille geschlungen. Ein weiteres Stück Stoffes wurde an der Hälfte zerrissen und als Dreiecktuch gefaltet wie ein Turban getragen, wobei sie sich einen Zipfel des Kunstwerks als Schutz vor Mund und Nase schob. Hände und Füße bedeckte sie sich mit Staub, Sand und etwas Erde, genug jedenfalls um ihre Haut wenigstens Oberflächlich dunkler Erscheinen zu lassen. Derart „gerüstet“ lief sie geschwinden Schrittes den Hügel des Anwesens hinab.

Was sich da unweit ihrer eigenen Position erhob, so inmitten herrschaftlicher Anwesen und prächtiger Paläste, war eine massive Festungsanlage, kreisrund und von unzähligen Portalen ringsum gesäumt. Davor tummelte sich ein vielfarbiges Volk, einzelne Gestalten waren schwer auszumachen, somit also ein beinahe idealer Ort um in der Masse zu verschwinden. Sie ließ sich regelrecht zwischen den meist übelriechenden Leibern treiben. Der eigenwillige Strom führte vorüber an aufgebahrten Ständen von allerlei absonderlichem Obst, handgeschmiedetem Schmuck, Waffen, Geschirr, Bronzeware... kurzum das gesammelte Reigen eines einzelnen, gewaltigen Suqs welcher sich zwischen Arena und Mauern der einzelnen Prachtbauten aufspannte. Der vorherrschende Eindruck war jener eines minder zivilisierten Umgangs untereinander, Ordnungsorgane, falls überhaupt vorhanden, trugen wohl weder besonders auffällige „Rüstungen“ noch schienen sie ihre Sache allzu ernst zu nehmen. Doch dies war zweifellos einer militaristischen Oberherrschaft zu verschulden. Krieger genossen vermutlich einen geeignet hohen Stellenwert um sich nicht mit Formalitäten wie Strafverfolgung oder anderem juristischen Unsinn herumschlagen zu müssen. Auch wurden sie wohl kaum beraubt. Beinahe jeder hier war gerüstet, trug wenigstens eine wuchtige Klinge, einen langen, vorne gekrümmten Dolch oder ein ähnliches Mordinstrument am Hosenbund, Gürtel oder auf dem Rücken. Gerade darum fiel sie wohl abermals besonders auf... oder auch nicht. Manche schienen sie schlicht auch nur für irgendeine gewöhnliche Haussklavin zu halten, wiederum andere ignorierten sie schlichtweg ganz und überrannten sie regelrecht. Jeder Schritt in diesem staubigen, ungepflasterten Markt eröffnete neue Perspektiven, hatte man sich nur weit genug voran drängeln können, erhielt man einen köstlichen Ausblick auf das umgebende Massiv, sowie den zentralen Angelpunkt der gesamten Stadt, den massiven Zikkurat welcher wohl dem Herrscher als Residenz diente, umgeben von hängenden Gärten welche bereits aus der Ferne an das Paradies denken ließen. Vermutlich war das also der Anreiz der ihnen geboten wurde, das „Himmelsreich“ auf Koron. Doch wozu all dieser kriegerische Pathos? Wozu die aufstrebende Nation, der Rebellion wider das Imperium willen? Oder waren hier andere Mächte am Werk, wie sie es bereits in Ar-Raschids Heim vermuten konnte?

Als die emporgestiegene Sonne den mittäglichen Zenit erreicht hatte, passierte sie eben erst eine Stelle an welcher eine Art Schrein errichtet worden war. Die verwendete Inschrift war archaischer Natur, sie war in einem Stil gehalten welcher dieser Tage kaum noch auf Koron verwendet wurde, sie war sich sogar ziemlich sicher das diese Dialektik offiziell als ausgestorben galt. Was bedeutete, man vermochte zwar die Zeichen grundsätzlich zu deuten, auch bis zu einem gewissen Grad zu lesen, jedoch nicht sie phonetisch wiederzugeben. Möglicherweise befanden sich innerhalb dieser Stadtmauern gar Menschen welche in der Lage waren sie gar zu sprechen. Der Gedanke verzückte sie über alle Maßen, ja, wenn sie zurückkehren würde an die geistige Fakultät Gohmors, würde sie diesen verstauben Grauhaaren lehren was wahre wissenschaftliche Arbeit war und ihnen gleich noch den Beweis für diese Schriftsprache im aktuellen Jahrtausend abliefern. Die Brust schwoll ihr ja schon vor herbeigewünschtem Stolz, vor zukünftigen Lorbeeren und allerlei akademischer Auszeichnungen. Wiederentdeckerin verlorengeglaubten Wissens, so würde es dann heißen, eine Heldin der Sprachwissenschaften, eine Heldin der Ethnologen. Die unterschiedlichen Lehrstühle würden sich um Vorrechte prügeln, von allen Seiten würde man sie beknien, betteln Vorträge über diese phantastische Reise zu halten. Doch... dies lag alles in der Zukunft. Nicht im Hier und Jetzt.

Diese Inschrift bezog sich offenbar auf einen glorreichen Sieg der herrschenden Dynastie gegen einen „Emporkömmling“, einen anderen Fürsten von weit jenseits der Berge. Sehr kryptisch gehalten, nicht auszuschließen das sie auch nur schlicht einen Fehler in der Translation machte. Einerlei. Sie strich mit den glatten Fingerspitzen über die rau gravierten Schriftzeichen, diese waren wohl keine zwei Monate alt, darüber hinaus befand sich am Sockel des Schreins – auf welchem sich eine gerüstete Männergestalt befand – eine kleine Einkerbung, in welche wiederum ein eisernes Gefäß eingelassen worden war. Darin befand sich eine klebrige, rote Substanz. Ein schlichtes Blutopfer an einem Wegschrein, resümierte sie kurzerhand. Es handelte sich hierbei eindeutig um prä-imperiale Religionsausübungen, derartige Opfer waren ja schon seit geraumer Ewigkeit durch die Zentralregierung verboten worden, zum Wohle aller reinen Geister, wie man stets betonte. Zahlreiche zerbrochene Krüge zu Füßen des Götzen deuteten darüber hinaus auf legere Trankopfer hin, während abgenagte Knochen wohl schlicht dem Hunger irgendwelcher Aasfresser zuzuordnen waren. Ohne sich diese Kultstätte noch weiter zu begutachten, offenbar hatte ihr übermäßiges Interesse an der Schrift abermals eine gewisse Aufmerksamkeit erregt, zog sie weiter die Hauptstraße entlang. Hunger, geschweige denn Durst, machten sich allmählich bemerkbar. Was zunächst nur ein laues, milde drängendes Gefühl in der Magengegend gewesen war, entpuppte sich mit fortschreitender Tageszeit immer mehr zum lästigen Drängen. Alsbald würde sie sich wohl etwas überlegen müssen um an essbare Nahrung zu kommen. Doch aufgrund von Ortsunkenntnis, sowie allgemeiner Unkenntnis der vorherrschenden Sitten, mochte sich dies zu einer recht großen Herausforderung entwickeln. Die allgemeine Möglichkeit einem Halbwüchsigen Nahrung zu entreißen blieb natürlich immer obligatorisch, fügte sich aber nicht recht in ihre Welterkenntnis, geschweige denn ihre Philosophie an sich.

„In welch eine absonderliche Stadt bin ich hier nur gestolpert...“, murmelte sie halblaut vor sich her, während sie barfuß den staubigen Pfad verfolgte welcher gen ein zentrales Tor der inneren Wehranlage Richtung großer Palast führte, „... alles scheint mir in der Zeit festgefroren zu sein, die vergangenen Epochen sind nahezu spurlos an all diesen Menschen vorüber gegangen. Sie leben wohl immer noch in einem finsteren Zeitalter, glauben noch an Götzen und erlösende Könige. Bringen sterblichen Fürsten Opfer dar als wären sie auserkorene Götter während sie selbst im Dreck um ihr tägliches Überleben kämpfen. Wahrlich, absonderlich...“
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