11-14-2010, 02:57 AM
Er lächelte. Es war dies krankhafte, sanftmütige Lächeln, dieses, welches man von großherzigen Großvätern gewohnt war. Bleckte zahnlose Lippen, während er sich mit langen, spitzen Fingernägeln darüber strich und weiterhin lächelte. Die Haut auf seinen Kuppen war zurückgewichen, das weißliche, knochige trat darunter hervor, die darüberliegenden Schichten waren dünner denn Pergament, wirkten alt, porös, beinahe bröckelig, während er sein Kiefer knackend zurecht schob. Fließende Bewegungen glichen einer hämischen Choreographie, akkurat, dennoch nicht gänzlich einstudiert oder gar fachmännisch in Begrifflichkeiten des Chirurgen. Schnitte welche nicht gemeint waren jemals eine natürliche Regeneration, geschweige denn ein abermaliges, lebendiges Zusammenfüge zu ermöglichen. Tiefe, fleischige, ja manchmal sogar überaus blutige Schnitte, dennoch entsprach jeder einer akribischen Ästhetik, welche nicht frei von künstlicher Schönheit oder Verzückungswürdigkeit war. Dies war Kunst, große Kunst sogar, zu groß für den gewöhnlichen, infamen Proletenverstand jener die es nicht begreifen mochten. Anspannung wich elastischer Zerrissenheit, während sich mikroskopisch verwobene Stränge peitschend um das Instrument schlangen, gleich Lianen um einen ächzenden Stamm. Verständlichkeit war keine Notwendigkeit, nur so viele Menschen suchten immer danach. Alles musste ein Grund, ein Motiv der Handlung haben, nichts konnte aus purer Lust heraus existieren, denn selbst dann, war ja der Ursprung der Handlung letztendlich der Hedonismus, der Genuss der Lust. Ihre kleine, nichtswürdige Geisterwelt war darin gefangen, wie in einer verschneiten Winterlandschaft innerhalb eines Eiskristalls, sorgsam konserviert, rationiert für die Notwendigkeit baldiger Erinnerungen. Und wie oft man sich daran ergötzen konnte, Stunde um Stunde um Stunde. Niemals verblassten irgendwelche simplifizierten Ausschweifungen, wie damals Onkel Hubertus auf der Holzbank gesessen hatte, Pfeife schmauchend, während er aus einem aufgeschlagenen Wälzer vorlas. Die Kinder saßen natürlich zu seinen in dicken Filzpantoffeln steckenden Füßen, auch der Hund hatte sich herbei gekuschelt, eingerollt das gerade die Schweifspitze die Schnauze berühren konnte, während Tante Agathe gerade frischen Tee heran brachte und ihr freundlichstes Dankeschön-Gesicht aufgesetzt hatte. Inzwischen löste sich allmählich Haar und Haut von Fleisch und Bein, ein verächtliches, beinahe erstickendes Grunzen war zu vernehmen, während die immer noch zuckende Zunge über den Kehlkopf strich, nichts wissend vom vormaligen Kieferknochen welcher sich hätte an anderer Stelle befinden müssen. Sein geschwungener Halbmond lag ja dort drüben, gemeinsam mit seinen anderen, wertlos emotionalen Habseligkeiten, sowie Gewändern, Feuerzeug als Erinnerung, Brieftasche und anderem Tand. Die Schuhe lagen sauber aneinander gestellt zwischen dem Schreibtisch und der Kommode, in welcher er für gewöhnlich seine diversen Schreibutensilien aufbewahrt hatte. Direkt auf der Ablage zerstreuten sich offensichtlich gut “frequentierte” Dokumente, Besitzurkunden und Schuldscheine, uneingelöst von seiner Partei. Der schnörkelhaften Unterschriften darauf mochten echt sein oder auch nicht, letztendlich war es genauso einerlei wie die Tatsache das sein höchsteigener Leibwächter sich eben noch über mangelnde Bewusstseinsfähigkeit beschweren mochte. Im krampfhaften Zusammenzucken krallte sich eine ausgestreckte Hand in die jeweils andere, während sich ein silberner Draht regelrecht in die geknechteten Unterarme trieb. Unmerklich, beinahe schmerzlos trennte sich sein persönliches Antlitz von dessen ursprünglichen Horst, ein Stupfen, ein sorgsames, vorsichtiges Reißen, gerade mal genug das verweichlichtes, fettiges Gewebe von Fleisch und Knochen gelöst werden mochte. Schmatzend, glitschig kroch es nieder, während sich dies unsäglich zart erwärmende Gefühl über Wangen, abwesende Kinnlade und Hals ausbreitete. Er war gebrochen, ein für alle Mal, seine Feinde hatten obsiegt und all der Einfluss, Reichtum und Prunk wart wie ausgelöscht, vor seinem geistigen Auge widerspiegelte sich sein allzeit durchlebter, dynamischer Werdegang, vom einfachsten Muttersöhnchen hin zum industriellen Magnaten. Verspürte glühende Qual, im Angesicht seiner ersten Liebe nahe dem Herzen, während er drehende Gedärme “riechen” konnte während sie ihn verließ. Konnte am Ohr gar den ersten, lieblichen Freudenschrei seiner Jüngsten vernehmen, während über seine Fingerspitzen die weiche, unbefleckte Haut deren Mutter glitt. Seinen Lippen war es als koste er abermals die dargebotenen Speisen beim Empfang des Hohen Herrn selbst, und just da zerrissen ihm jener Bänder welche allesamt hielten und das wo er hauste, ergoss sich qualmend, schwer vom Inhalt über den teuren Brokat mit welchem das schmale Kabinett ausgelegt war. Zusammenhangslos rollte sich der klebrige, feuchte Zungenlappen ein, wollte artikulieren, wo doch nichts mehr zu artikulieren war. Und dann verging alles, fing Flammen, wurde verzehrt und wandelte sich zu Rauch, Asche und Vergessenheit. Kunst.