01-17-2011, 12:37 PM
Lysander machte es sich an dem schweren Schreibtisch gemütlich und zog sich den Sessel seines Onkels heran. Er sah Akten ein, suchte, laß, suchte und rieb sich nach langen Minuten und vielen durch seine Hände gegangenen Aufzeichnungen müde die Augen. Danach schob er die Handschuhe wieder über. Er wollte schließlich nicht unnötig Spuren hinterlassen. Wo war hier die Verbindung zu ihm? Der Verwandschaftsgrad war eigentlich zu weit auseinander. Was hatten die Ermittler gegen ihn in der Hand? Er war immerhin gefoltert worden! Und die Behörden waren mit Sicherheit nicht dafür bekannt, Verdächtige so einfach ziehen zu lassen. Erst recht nicht dann, wenn man irgendwie in Verdachtsfälle der Ketzterei verstrickt wurde. Ganz gleich, ob man beteiligt war oder nicht. Das dekadent-bequeme Credo der imperialen Gesetzeskraft sah vor, lieber ein paar zur Sicherheit mit hinzurichten, als wen davon kommen zu lassen. Bei unliebsamen Personen mit einem Funken von Verstand und Weitsicht war das nicht minder Gang und Gebe. Und der Fahnenjunker war so frei, sich zu letzteren zu zählen. Das alles war auch prinzipiell nicht Lysanders Baustelle, solange er nicht in der Grube saß. Doch er saß darin und man würde ihn ganz bestimmt wie Falken beobachten, wie er wieder daraus zu kommen versuchte. Ergeben den Kopf zu senken fiel ihm allerdings nicht ein. Hier hing sein Leben womöglich am seidenen Faden und auch sonst wäre das nicht sein Stil gewesen. Es musste doch etwas geben, das ihn ungesehen und plötzlich aus dem Loch herausschaffen würde. Als höflicher Mensch wollte er sich revanchieren. Andere durften auch in die Grube. Vielleicht verstanden sie ihn ja dann? Wohl kaum. Das war ja das Problem Korons. Wären nicht die meisten in feige Ränkeschmiede verstrickt und nur damit beschäftigt, ihre feisten Körper weiter zu übersättigen, dann wäre Koron ein freies System und kein geknechteter Vasall der imperialen Ausbeuter. Lysander legte alles wieder an seinen Platz und schob auch Tarians Sessel zurück. Das hier würde ihm nicht helfen, so viel war sicher. Er ging aus dem Arbeitsraum heraus und in den Versorgungsbereich. Dort griff er sich aus einem der Hängeschränke ein Trinkgefäß und füllte es mit Trinkwasser. Um keine verräterische DNA zu hinterlassen, griff Lysander nach dem Trinkstutzen seiner Atemmaske und trank über ihn. Die gekühlte Flüssigkeit erfrischte ihn. Dann trocknete er das Gefäß flüchtig ab und stellte es sorgfältig zurück. Das würde zumindest raschen Blicken standhalten. Sein Onkel war gefasst worden. Und längst verurteilt. Und längst sicher tot. Fünf Tage ließ man nach einer Verurteilung für Häresie die Verurteilten für gewöhnlich noch vor sich hin vegetieren, ehe man sie "erlöste". Lysander konnte sich kaum vorstellen, dass Tarian einen so groben Fehler begangen hatte. Dafür war der Mann zu lange im Geschäft gewesen. Und auch zu weit verdorben. Konnte man überhaupt von verdorben sprechen? Sollte man es nicht eher als weitsichtig benennen.? Gefährliches Gedankengut. Lysander schüttelte in dieser gefährlichen Umgebung diesen Gedanken lieber schnell ab. Man wusste ja nie, mit was für faulen Zaubern seine Verfolger arbeiteten, um ihn letztlich doch zu schnappen. War Tarian verraten worden? Mit großer Sicherheit nicht von seinen Dienern aus Böswilligkeit heraus. Sie mussten alle mit im Boot gesessen haben. Und einander zu denunzieren bedeutete nichts geringeres als den sicheren Tod. Und ob die Untersuchungskommission zu geständigen Ketzern unbedingt barmherziger war, blieb offen im Raum stehen. Hatte man einen von Tarians Dienern entlarvt und der hatte unter Folter Informationen Preis gegeben? Möglich. Dieses Getier wurde zu schnell weich unter Terror und Schmerz. Kein gestählter Geist. Wesen zweiter Klassen. Aber Entführungen von Dienern geschahen beinahe regelmäßig. Dieser Zeitpunkt schien für die Tragweite des Geschehenen nicht zu passen. Fakt war, dass Tarian Orsius aufgeflogen war. Welchen Nutzen konnte Lysander daraus ziehen? Irgendetwas musste möglich sein. Der bittere Beigeschmack an der Sache war bloß, dass Lysander seinen einzigen Vertrauten verloren hatte. Das tat weh. Dafür musste jemand büßen. Was hatte der alte Kauz ihm hinterlassen?