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Zeitenwende
#60
Star 
Das Lounge Light war ein absonderlicher Ort. 
Nicht per se wegen seiner reinen Funktion. Eine Bar, wie es derer tausende in der Hauptstadt des Planeten gab. Etwas gehobenere Preisklasse, aber erschwinglich genug, dass der gewöhnliche Arbeiter seinem Date einen Mystic Moonlight oder einen Crimson Desert ausgeben konnte und gönnerhaft wirkte, ohne sich zu ruinieren. 
Schummrig, eine Idee Anrüchigkeit, ohne schäbig zu sein. 
So war es zumindest mal gewesen. Als Cassian jetzt durch den Eingang trat und in den Nebeldunst aus Zigarren-, LHO-, Zigaretten,- und Pfeifenrauch eintauchte, zeigte sich ein merkwürdiges Bild. An den Stühlen saßen die Horden der selbsternannten Freiheitskämpfer. In ihrer paramilitärischen Uniformlosigkeit, die nur dann und wann vom den gelb-schwarzen Muster unterbrochen wurde, was sich die Rebellen als Symbol ihrer Sache auserkoren zu haben schienen. Einige aßen aus Feldgeschirr, andere reinigten ihre Waffen, wieder andere spielten Karten oder diskutierten Lautstark. An die einstige Sauberkeit und Ordnung, die hier sicherlich geherrscht hatte, erinnerte kaum noch etwas. In einer Ecke stapelten sich Versorgungskisten, in der anderen zerschlagene Tische und Stühle. Die Flaschen, dereinst gewiss säuberlich hinter dem Tresen aufgereiht, standen auf den Tischen oder lagen leer in der Gegend herum. Dort wo ein Spiegel oder ein großes Bild hinter der Bar gehangen hatte, prangte jetzt die nackte Wand, auf die das Symbol der Transformationssekte gesprüht wurden war. 
Einzig leidlich unberührt vom Durchgangsverkehr und dem mangelnden Enthusiasmus des Putzpersonals, schien die kleine Bühne zu sein. Nur das vergessene, Bierglas auf dem dort stehenden Piano und die in Teilen abgerissene Kreppverkleidung rings um die Bühne passten in das restliche Bild. 
Cassians Eintreten wurde von niemandem wirklich bemerkt. Er selbst brauchte einige Sekunden um den Prediger zu entdecken. Er saß mit einem Mann und einer Frau an einem runden Tisch und sie unterhielten sich lebhaft mit einer weiteren Person, die neben ihnen stand. Alle hatten alkohlische Getränke bei sich. Nachdem sich der Arbitesagent einen Weg zu der Gruppe gebahnt hatte stellte Renold ihn den anderen vor. 
Das hier ist Oleg und das hier Liux. Neuzugänge wie du. Die beiden nickten ihm zu. Die Frau hatte widerspenstiges, blondes Haar, was wie ein Getreidefeld aussah, durch das der Sturm gefegt war. Narben auf ihrem Gesicht deuteten an, dass sie auf ihrem Lebensweg nicht nur Wäsche gewaschen hatte. Sie trug eine abgenutzte Armaplastweste und an ihrem Stuhl hing ein Lasergewehr. 
Oleg war ein nervöser Typ mit zu großer Uniform in der Farbe von Senf. Nichts Militärisches wie es aussah oder wenn dann eher Arbeiterbrigade oder paramilitärischer Dienstleister. Das spitze Gesicht des Mannes und die kleine, randlose Brille verliehen ihm das Aussehen eines Nagetieres. 
Auch sie werden Kommandos übernehmen wenn es soweit ist. 
Willst du etwas trinken? Er winkte einen jungen Burschen, eigentlich noch ein Kind, mit einem Rollwagen voller Flaschen herbei. Nimm dir, mein Freund. 
Geht alles auf den Gouverneur. Er lachte. Dann ging unvermittelt das Licht aus. 
Das war offenbar nichts Ungewöhnliches, denn die Gäste schienen sich nicht durch die plötzliche Dunkelheit stören zu lassen. Durch die schmutzigen Fenster fiel ein wenig Flutlicht von draußen und ein trüber Spot war auf die Bühne gerichtet. In dem Schein kräuselte sich der tanzende Tabakrauch. 
Gestalten erschienen auf der Bühne und stimmten ihre Instrumente. Der Mann, der am Piano Platz nahm, ließ die Fliegenfalle von leerem Bierglas gegen ein ein gefülltes austauschen und klimperte ein paar Akkorde. 
Neben dem Piano ließ sich aus halbdunklem Schemen und lethargisch heranschwimmenden Noten ein ätherisch summender Harmonbass erkennen. Außerdem eine wimmernde Smybo und das elektronisch gezupfte Tropfen einer Lichthafe. Letztere schickte ihre gefächerten, grünen Kontaktlaser wie Lanzen in den blauen Dunst. Im atonalen Durcheinander fanden die Töne zueinander, begannen sich zu umkreisen und aufeinander zu antworten. 
Eine melancholische Melodie entstand, die die Gespräche im Raum nach und nach verstummen ließ. In den See aus träge miteinander tanzenden Noten sprang ein einzelnes Wort und schwamm zu den Zuhörern herüber. 
Das Wort war Einsamkeit. Es wurde mit gesetztem Applaus aus den Reihen des bis an die Zähne bewaffneten Publikums beantwortet. Hätte man eine Assoziation bemühen müssen, um diese Stimme zu beschreiben, so vielleicht das Bild von zimmerwarmen Whisky, der sich über Eis erstürzte und dieses mit sanfter Vehemenz schmolz. 
Die Einsamkeit, von der da gesungen wurde, war eine, wie sie Liebe zu einer einzelnen Person nicht lindern konnte. Die Sängerin hatte es versucht, so berichtete sie. Mit Männern und Frauen, doch die Einsamkeit blieb. 
Das Spotlight fand sie und entriss sie dem Dunkel. Eine Frau in einem schwarzen Cocktailkleid, mit Pailletten besetzt, die funkelten, als trüge sie ein Stück geschneiderte Nacht. Ihre langen Hände steckten in schwarzen Handschuhen und traumwandlerisch schwebte sie auf den hohen Absätzen ihrer gewagten Stöckelschuhe einher. Ihre Haut war weiß wie Milch und blendete vor dem Kontrast ihrer Garderobe geradezu. Von ihrem Gesicht lenkten keine störenden Haare ab, die als Rahmen selbst um Aufmerksamkeit geheischt hätten. Stattdessen bildete ein kunstvoll hoher Stehkragen den Hintergrund für ihr Alabastergesicht. Die Wangen hoch, die zierliche Himmelfahrtsnase, eine angedeutete Mischung aus Arroganz und Kindlichkeit. Die Augen schienen im Gegenlicht schwarze Opale zu sein, beschattet von ungewöhnlich langen Wimpern. Schwarz gefärbten Lippen schwebten im Weiß ihres Gesichts und sang von der einzig wahren Heilung für die krankhafte Einsamkeit. 
Nur in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten konnte das Verlangen nach verwandten Seelen gestillt werden. Die Verbindung zwischen Liebenden war leer, die Liebe zwischen Vielen war wahr. 
Sie endete, mit nachdenklich gesenktem Blick, die langen Finger um das Mikrofon geschlungen wie Käferbeine. Applaus brandete auf, in den sie ab und an ein verschämtes Dankeschön hauchte. Sie dankte den Anwesenden für ihr Hiersein und stimmte ein zweites Lied an. Es handelte von einem Jungen, der in der Gasse verblutete. Niedergeworfen von der Kugel eines Soldaten, der unter der Atemschutzmaske kein Gesicht hatte. Wer aber kein Gesicht hatte, konnte auch nicht in den Spiegel schauen.
Das Blut auf dem Asphalt gerinnt. Dort liegt des Zornes jüngstes Kind. Was nicht sein darf, das muss nun sein. Aus der kalten Hand, nimm den noch warmen Stein. 
Dem folgte ein weiterer Schmachtfetzen, ein zeitloser Gassenhauer der mittleren Ebene. Annabell schenk mir ein Lächeln. Zum Abschluss dann ein umgedichtetes Soldatenlied, das die Streitkräfte verhöhnte. Wir sind vom Idiotenclub und stellen wieder ein. Wir nehmen Weib und Männlein gern, nur blöde müsst ihr sein. Bei uns herrscht die Parole: Sei dämlich bis zum Tod! Und wer den größten Schaden hat, wird Oberidiot. Muss der Gefreite sterben, dann hat er leider Pech, Metall braucht man für Orden, für Särge bleibt kein Blech. Das funkelt, an der Brust des stolzen Adelspack. Gefreiter sei nicht traurig, für dich haben sie nen Sack. 
Der Saal tobte. Sie gröhlten, applaudierten, lachten und johlten. es war ein wunder, dass niemand Löcher in die Decke ballerte. Die Sängerin ließ sich einige Minuten auf der Bühne feiern. Jemand reichte ihr einen Drink und eine Ziagarrte in einer Rauchspitze. Während sie von der Bühne herunterschritt, überschlügen sich die Anwensenden um ihr Feuer zu geben. 
Sie ist so großartig, so großartig. Renold war ganz aus dem Häuschen. Falls ihr es noch nicht erraten habt, das ist natürlich die göttliche Soraya. Ist sie nicht großartig? 
Eine interessante Szenerie spielte sich jetzt ab. Im Grunde wiederholte sich die Situation im Konferenzraum des Hotels. Aber Renold schien das nicht zu bemerken. Wie er noch, vor nicht einmal zwei Stunden, schritt jetzt diese Frau durch die Reihen, machte hier und da Smalltalk oder blieb für ein oder zwei Sätze mehr an einem Tisch stehen. Inzwischen hatte ihr jemand eine Pilotenjacke um die Schultern gelegt, da es für ihre Garderobe doch ein wenig kühl war. Die etwa eine Nummer zu große Jacke war eher eine raffinierte Ergänzung ihres Outfits zu sein, als eine Störung. 
Schließlich kam sie auch zu ihrem Tisch. Renold erhob sich umständlich und schon von weitem streckte Soraya die Arme aus, als wolle sie ihn über die Entfernung an ihren Busen drücken. 
Renold! Der tat es ihr gleich und legte den Kopf dabei schief, grinsend wie ein Honigkuchenpferd. 
Eine tolle Show, meine Liebe. Sie winkte ab und schloss ihn in die Arme. Ach das bisschen Gekrächze. Wie geht es deinem Bein? 
Jeden Tag besser. Kann dem Gouverneur bald wieder in den Arsch treten.
Ich halte ihn mit größtem Vergnügen für dich fest.
Sie lachten.
Wie sieht es an der Grenze aus? Ist es bald soweit? 
Morgen vielleicht, eher übermorgen. Sie ziehen immer mehr Kräfte zusammen. Viel mehr als man braucht um nur die Demonstrationen an den Ebeneneingängen zu bekämpfen. 
Ich bin aufgeregt wie ein Schulmädchen. Dann blickte sie zu Cassian und seinen neuen Spießgesellen.
Und wen haben wir hier? Sie hielt dem Burschen die Hand hin, der kurz zu überlegen schien, ob er sie küssen sollte. Dann schüttelte er sie aber doch unbeholfen.
Neuzugänge. Ich werde sie als Truppführer in der zweiten Linie einsetzen. Alle mit Kampferfahrung. 
Wie schön. Säuselte sie und gab auch der Frau die Hand. Schließlich kam Cassian an die Reihe, während sie noch immer zu Renold sprach.
Sie sind noch kein Teil der Familie? Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Sie ließ die Hand des Arbietes nicht los. Für so zierliche Finger wohnten diesen eine beachtliche Kraft inne. Außerdem war da etwas in ihren Augen. Sie waren so schwarz und tief. 
Auch diese abgründigen Augen konnten Finger aussenden, die über Cassians Gehirn krabbelten. Nicht metaphorisch, denn er konnte es tatsächlich spüren. Tippelnde kleine Fingerkuppen, die seine Hirnrinde entlanghuschten und nach einen Falte, einer Unebenheit suchten, in die sie Nägel stecken und kratzen und hebeln konnten. Eine Lücke schaffen, einen Eingang um hinein zu schlüpfen und dann Geheimnisse und Unausgesprochenes zu ertasten.
Ich habe sie alle getestet und sie scheinen mir integer genug zu sein, um der Sache zu dienen. Danach kann man sie immer noch tiefer in die Strukturen einweihen. Wir müssen momentan jede fähige Hand ergreifen, die sich uns hinstreckt um zu helfen.
Entgegen dieses Sinnbilds ließ Soraya die Hand des anderen ebenso los wie seinen Verstand.
Natürlich vertraue ich deinem Urteil voll und ganz Bruder. So wie immer. Ihr Lächeln war das eines scheuen Rehs, ihre schwarzen Augen sprachen von Vielem, aber nicht von Vertrauen.
Ich werde den heutigen Abend noch genießen und dann eine große Lagebesprechung anberaumen. In sechs Stunden denke ich. Es wäre schön wenn du auch dabei wärst, mein Lieber. Das sagte Renold natürlich zu, auch wenn seine Beteiligung keine Sache von Freiwilligkeit zu sein schien. Die drei Neuzugänge waren natürlich für eine solche Beredung nicht zugelassen, wie Renold ihnen erklärte, nachdem Soraya sie wieder verlassen hatte und weitergezogen war. Sie würden ihr eigenes, heruntergebrochenes Briefing morgen Vormittag bekommen. Dann würden sie auch ihre Gruppen zugewiesen kriegen. Natürlich, so beteuerte Renold, hätte er sich gewünscht, wenn sie mit den Kämpfern hätten üben und sie kennenlernen können. Da dies in Anbetracht der umstände aber nicht gehen würde, mussten sie das beste aus der Lage machen. 
Er machte ihnen klar, dass der zu erwartende Angriff eine heftige Sache werden würde. Sie hatten nicht vor in den Tod zu gehen, gleichwohl war dieser, wie auch schwere Verwundung, eine mehr als reale Option. 
Er riet ihnen daher, den Abend so zu verbringen als wäre es ihr letzter. Denn das konnte durchaus sein.
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