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Zeitenwende
#44
Man hätte meinen sollen, einen Kranken zu besuchen, war nicht mit dem Aufwand gleichzusetzen, den eine steuerliche Neueinordnung, nach einem irregulären Umzug zwischen nicht, übergreifenden Fiskalbezirken mit sich brachte.
Solch eine Fehlannahme stand die Anmeldung im Großkrankenhaus St. Dreienburg als klares Muster dafür gegenüber, zu welchen Höchstleistungen die Bürokratie fähig war. Der Fairness halber musste allerdings betont werden, dass es sich um den, der da Besucht werden sollte, um einen Patienten des Flügels für militärisches Personal handelte und dass es darüber hinaus jemand war, der einige Berühmtheit erlangt hatte. Der Besucher selbst war in den letzten drei Monaten auch nicht ganz unbekannt geblieben, so wie die meisten Menschen, die die Hölle der Ratshalle überstanden hatten. Es hatten sich regelrechte Kulte um die Überlebenden gebildet. Zeitungen, Radio, das Vid und alles dazwischen und darüber hinaus, rissen sich um die “Tapferen Wenigen”, wie sie genannt wurden.
Waldorf hatte seinen Teil mit diversen Interviewanfragen abbekommen. Mehr noch hatte sich der Boulevard aber auf Kruger eingeschossen. Sie galten als das Duo, dass eines der großen Mutantenungeheuer zur Strecke gebracht hatte und davon noch erzählen konnte.
Aber Waldorf war der Telegenere von beiden, allein dadurch, dass er seinen Arm verloren hatte, Militärangehöriger war und bereits Träger eines Orden des goldenen Schädels.
Das hatte Potenzial.
Obendrein konnte er sich durch seinen anhaltenden Krankenstand nicht gegen die Zudringlichkeiten, Geschichten und Spekulationen der Presse erwehren.
Glen hatte Waldorf grinsend verkündet, dass er ihn gerne fuhr und auch klaglos auf dem Parkdeck auf ihn warten würde. Aber keine zehn Carnaks brachten ihn dazu diesen Menschenstall zu betreten.
Zu allem Überfluss hatte er seinem Kameraden und Vorgesetzten auch noch eine große Packung Zuckerkonfekt überreicht, die er auf die Bitte “Eine kleine Aufmerksamkeit zu besorgen” für Waldorf, beziehungsweise für Kruger mitgebracht hatte.
“In Anteilnahme und der Hoffnung auf baldige Genesung” war in geschwungener Schnörkelschrift darauf geschrieben. Zum Abschied gemahnte ihn Glen noch einmal daran, dass heute ihr letzter freier Tag war, bevor man sie mit einer neuen Einsatzlage bedachte und er nicht vor hatte seinen ganzen Abend hier und vor allem nüchtern zu verbringen.
Der Zugangsbereich des Krankenhauses Erinnerte an die Zustände auf einem Bahnhof oder an einem Flughafen. Hunderte Menschen, die auf langen Bänken warteten, dass Ihre Nummer über einen der unzähligen Bildschirme flimmerte und sie von ihrem endlosen Ausharren ablöste.
Unter der gewaltige Skulptur einer weiblichen und einer männlichen Person, die gemeinsam die allegorische Fackel der Weisheit umfassten, schien der halbrunde Anmeldebereich nur die eine Weisheit zu verkünden: Keine passenden Formulare, kein Service.
Das bekam Waldorf ebenso zu spüren wie jeder andere hier. Seine ID wurde angenommen und von einem keuchenden Logikverarbeiter ratternd registriert. Doch noch bevor er überhaupt sagen konnte wohin er wollte, bekam er von der chronisch gestressten Dame hinter dem Schalter die vernichtende Frage gestellt, wo er das Besucherantragsschreiben hätte. Als er verneinte eben dieses zu besitzen, verwies sie ihn darauf, dass er erst wieder vorstellig werden konnte, wenn das Schreiben wahrheitsgemäß ausgefüllt vorläge.
Mit einem Seufzer stellte er die Frage, ob man das ganze nicht beschleunigen konnte und wusste natürlich schon, dass diese verneint werden würde.
Es war eher eine rituelle Handlung. Die Dame spielte in dieser ewigem Abfolge mit und blickte zornig auf, wohl um so Satzfragmente zu verwenden wie, “da könne ja jeder kommen”, “es gibt schließlich Vorschriften”, “für wen er sich halte” und so weiter und so weiter.
Zu seiner großen Überraschung glätteten sich ihre Gesichtszüge und sie blinzelte erst verblüfft, sah noch einmal auf die ID Informationen auf ihrem Bildschirm und strahlte dann regelrecht über beide Ohren.
Wissen Sie, wer Sie sind? Sie bemerkte die Albernheit in dieser Frage und strich sich verlegen eine rebellische Strähne hinter das ansonsten streng geknotete Haar. Es ließ sich nicht verneinen, dass unter dieser Maske aus Stress und berufsbedingter Unfreundlichkeit eine hübsche junge Frau verschüttet war.
Ich meine natürlich wissen Sie das, aber Sie sind berühmt. Als sich ein paar Leute nach ihnen umsahen zügelte sie ihre Lautstärke. Nicht unbedingt um seine Identität zu schützen, sondern wohl vielmehr um ihren Fund für sich zu behalten.
Um Terras Willen, Sie waren in der Ratshalle dabei. Ich kenne ihr Gesicht aus der Frau von Jetzt… sie haben eine dieser Bestien getötet. Sie glühte ihn an, wie eine Heiligenstatue.
Sie sehen noch besser aus als auf dem Bild. Sie errötete etwas.
Also ohne das Blut und den ganzen Schmutz meine ich.
Haben Sie gesehen, wie der Gouverneur und seine Frau geleuchtet haben? Haben Sie das Wunder gesehen?
Ohje… da plappere ich wie ein Schulmädchen und Sie sind doch ganz gewiss hier, um ihren Freund zu besuchen.
Wahnsinn.
Natürlich konnte man kaum von Freundschaft reden, wenn man sich nur vom gemeinsamen Kampf gegen einen tödlichen Feind her kannte. Nichtsdestotrotz verband so ein Ereignis auch auf eine gewisse Art und ein Anstandsbesuch war sicher das Mindeste. Also bejate er in der Hoffnung, so alles ein wenig beschleunigen zu können.
Das immerhin gelang. Da kann man eine Ausnahme machen. Nein da muss man eine Ausnahme machen. Schließlich sind sie ein nationaler Schatz, ein Held und alles. Sie müssen sich nur hier ins Besucherbuch eintragen. Es handelte sich um eine elektronische Liste, die aber tatsächlich nach Form eines Buches gestaltet war. Die Dame war so entgegenkommend, ihm Namen und Zimmer seines unfreiwilligen Kampfgefährten herauszusuchen.
Er ist noch sehr schwach und braucht viel Ruhe. Nicht nur wegen der Amputation. Die hat er ganz gut verkraftet… also das habe ich von einer der Stationsschwestern gehört.
Nicht das Sie denken, wir würden hier die Privatsphäre unserer Patienten nicht achten, aber Herr Kruger ist ein Held.
Genau wie Sie.
Da redet man natürlich. Also die Amputation und auch die inneren Verletzungen hat er gut überstanden. Aber er soll eine sehr hochwertige Prothese bekommen und ich meine sehr hochwertig. Es war sogar ein Techpriester hier um bei der Operation zu unterstützen. Die ganzen Zugänge und Verbindungen und diese Dinge. Das ist alles sehr kompliziert und anspruchsvoll, vor allem bei seinem geschwächten Zustand. Die OP hat zwanzig Stunden gedauert.
Das war vor drei Wochen und er schläft jetzt noch mehr als er wach ist.
So viel Mut und Leidensfähigkeit. Man sagt, er soll noch einen Orden dafür bekommen. Wissen Sie etwas? Bekommen Sie auch einen?
Ach naja… vielleicht kann man darüber bei anderer Gelegenheit ja noch einmal reden. Ich schreib Ihnen hier einmal meine Com Nummer auf.
Sie kritzelte hastig auf einen Notizzettel mit dem Logo des Krankenhauses. Nur falls Sie noch irgendwelche Fragen haben. Sie schob ihm den Zettel hin und bedachte ihn mit einer gekonnten Mischung aus Schüchternheit und Andeutung. Ich bin übrigens Dolores und meine Schicht ist immer 20 Uhr zu Ende. Sie gab ihm einen elektrischen Griffel und tippte auf eine Stelle im Buch. Über der freien Zeile stand bereits der Name “Simone Tober”.
Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Es ist schon eine Reporterin vom Guaridan bei ihm. Die hatte eine Sondergenehmigung vom Oberkommando, weil sie schon einmal einen Bericht über ihn gemacht hat. Wenn Sie oben sind, sagen Sie ihr, dass sie jetzt gehen muss. Er ist sowieso nicht in der Verfassung für ein Interview und wenn sie über seinen Zustand etwas schreiben wollte, dann reicht die Zeit, die sie jetzt hatte. Nach einem gesäuselten bis später war Lars entlassen und konnte sich zu einem der vier Aufzugsschächte begeben.

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Simone ließ sich einige Zeit damit, den ausladenden Blumenstrauß auf dem kleinen Tisch im Zimmer zu arrangieren. Echte Blumen kosteten ein Vermögen, aber da war sie nicht kleinlich gewesen. Das rosa Blütenblatt einer Zykose löste sich und schwebte wie eine Daune hernieder. Wie es die Eigenart dieser Pflanze war, verging das Blütenblatt, kaum dass es der restlichen Pflanze entrissen war. Auf der Tischplatte zerfiel es zu einem weißen Staub und wurde von einem kaum spürbaren Lufthauch verweht. Allegorie unzähliger, meist zweitklassischer Liebesgedichte.
Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen würden, mein Lieber.
Das Sie in so einer oder einer ähnlichen Situation enden würden, dass schon. Aber ich selbst sah mich nicht in diesem Bild.

Im Raum war es ruhig, wenn auch nicht still. Maschinen und Überwachungsapparaturen erzeugten eine stete Geräuschkulisse aus leisem Summen und schnarren. Es war ein Einzelzimmer, wie es einem so prominenten Überlebenden des Massakers gebührte.
Ist Ihnen die Sinnbildlichkeit dieser ganzen Situation aufgefallen? Man wird ihnen einen eisernen Arm anpassen und einen weiteren goldenen Orden an die Heldenbrust heften. So verstümmelt und zermalmt Sie auch sind, Arius, sie bleiben die eiserne Faust des Regimes.
Ist es das, was sie sich gewünscht haben?
Sie federte den Strauß ein letztes Mal auf, trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Dann kam sie an sein Bett heran und setzte sich auf die Kante seines Fußendes. Ironisch ist dabei, dass sie sich trotz all dieser Aufmerksamkeit und der baldigen Aufrüstung ihres Leibes, doch nicht dagegen wehren können, dass ich naives und weltfremdes Geschöpf sie mit meinem liberalen Gerede volltexte. Das stimmte, denn Kruger war kaum in der Verfassung sich gegen einen, wie auch immer gearteten Redeschwall zu wehren. Dort wo einmal sein rechter Arm gewesen war, ragten elektronische und mechanische Anschlüsse aus seinem verbundenen Stumpf, noch mit Gummi ummantelt. Salben und Wundsekret hatten den Verband rings um die Anbauteile gelb verfärbt. Sein anderer Arm lag in einer ledernen Schlinge. Nicht weil die Verletzungen dies bedingt hätten, sondern um zu verhindern, dass er sich im medikamentösen Halbschlaf an der rechten Schulter zu kratzen versuchte.
Sein Kopf und sein Oberkörper waren ebenfalls stramm umwickelt, denn die Anpassung eines künstlichen Armes bedurfte mehr, als nur ein paar Steckverbindungen an der Schulter. Am Rückgrat und am Gehirn hatten Chirurgen und der Marspriester arbeiten müssen.
Als wir uns damals auf dem Luftschiff trafen, da mochte ich sie wirklich. Unter all dem, was ihnen die Armee und das Imperium angetan hat, habe ich ein gutes Herz zu erkennen geglaubt. Einen feinen Kerl, wie man so sagt. Der Hass und die Verachtung waren Dinge, die Ihnen die Propaganda ihr Leben lang eingeträufelt hat. Wie kann man dem widerstehen?
Aber inzwischen sind sie viel mehr als nur ein fehlgeleiteter kleiner Zinnsoldat. Sie sind ein Symbol geworden, ein Fanal. Sie werden zu der Menschmaschine, die das Imperium so sehr liebt. “Wenn du kaputt gehst für uns, schrauben wir dir neue glänzende Teile dran, ziehen dich wieder auf,
die Reporterin machte mit ihren schlanken Fingern eine Bewegung, als würde sie den Schlüssel eines Spielzeuges bewegen, drehen dich in die Richtung die wir wollen und lassen dich loslaufen. Sie seufzte und lächelte traurig.
Man versucht sie wie einen Helden aussehen zu lassen, aber viele, viele sehen sie als das, was sie sind. Der Avatar des Monstrums, dass es zu überwinden gilt.
Simone Tober trug einen elegantes Businessoberteil in einem ausgeblichenem Senfgelb mit gepufften Schultern. Kombiniert mit luftigen Hosenrock in Dunkelblau. Letzterer hatte eine Knopfreihe an der Seite, welche sie nun bedächtig an der rechten Hüfte aufknüpfen begann. Als wir in Luth waren, hat man mich nicht am XinHo bleiben lassen. Ich durfte ihre Position kurz besuchen, als das Landefeld fertig war und musste abends wieder abreisen. Militärische Geheimhaltung. Während sie mit einer Hand noch immer an der Knopfreihe herumnestelte, legte sie den Zeigefinger der anderen gespielt, verschwörerisch auf die Lippen. Als ich mit einigen Einheimischen in den Dschungel aufbrach, hat das niemanden gestört. Soviel zur Kompetenz ihres geliebten Militärs. Sie machte eine Pause und schien in unbestimmte Weiten zu blicken.
Hätten Sie die Wunder sehen können, die ich gesehen habe. Dann wäre ihnen all das hier als so leer und bedeutungslos erschienen wie es ist.
Es ist eine Sache sein ganzes Leben davon zu hören, immer mit der Aussicht, vielleicht nicht zu der Generation zu gehören, die es am Ende miterlebt. Aber mit eigenen Augen… nein mit dem eigenen Verstand zu sehen, von was man Teil ist… das ist…
Sie seufzte wieder und ihre Schultern verloren etwas an Spannung.
Als würde man einem Blinden das endlose Blau des Himmels, außerhalb der Makropole erklären wollen. Die Seite ihre Kostüms war jetzt so weit geöffnet wurden, dass man nicht nur ihre Strumpfhose sehen konnte, sondern auch das Geflecht aus Riemen und Schlaufen. Sie lassen einen in den Dschungel gehen ohne zu fragen wohin man will und sie lassen einen durch die Waffenkontrolle, wenn man mit einem Presseausweis und einer vermeintlichen Sondergenehmigung herumwedelt. Vermutlich die liberale Zersetzung eines restriktiven Staates. Die Starreporterin des Guardians zog ein absurd großes Messer aus dem Versteck an ihrem Körper. Eigentlich ähnelte es mehr einer Sichel als einem Messer. Die Klinge ahmte ein gebogenes Rückgrat nach, jeder angedeutete Dornfortsatz ein bösartig gebogener Widerhaken. Der Griff der Waffe zeigte eine knöcherne Figur, welche die vier Arme um sich selbst geschlungen hatte.
Das wirklich Lustige ist, dass ich das gar nicht an Ihnen benutzen werde. Bei all dem Bangen und Zittern, es hier reinzubekommen. Sie ließ das schwache Licht der gedimmten Lampe über der Tür kurz in dem polierten Stahl glänzen und legte die Waffe dann neben sich auf das Bett. Erst hielt ich es für eine gute Idee. Sie wissen schon, das Symbol der Knechtschaft mit dem scharfen Symbol des Widerstandes abgeurteilt. Aber ich kann mir denken, dass ihnen das am Ende sogar noch gefallen würde. Die Klinge, der rechtschaffene Stahl, Tod eines Kriegers oder irgend so ein chauvinistischer Kinderkram.
Ich werde daher davon absehen und sie aus dem Leben befördern, wie man es manchmal mit unliebsamen Alten, mit Verkrüppelten und ungewollten Kindern tut.
Sie stand auf und griff das Kissen, dass zur Reserve auf dem eigentlichen Besucherstuhl lag.
Ich werde sie von meinem Geschwätz erlösen und die Welt von einem falschen Helden. Sie legte das Kissen auf sein Gesicht und begann zuzudrücken.
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